Responsible Leadership: ein weisser Schimmel?

Leadership ist Voraussetzung und wichtigstes Handwerkszeug für unsere Tätigkeit als Führungskraft. Ob als Linienvorgesetzte, Fachkader oder Projektleitende, unsere Aufgabe ist es, Menschen in unserer Organisation zu motivieren, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und dabei von ihren Talenten optimal Gebrauch zu machen. Dabei setzt Leadership auf Verantwortung gegenüber sich selbst, den Mitarbeitenden und Peers, den Stakeholdern und der Gesellschaft.

So weit, so gut. Wenn nun aber Leadership bereits Verantwortung einschliesst, wieso hören wir in letzter Zeit so oft den Begriff «RESPONSIBLE Leadership»? Ist das nicht eine Verdoppelung, ein sogenannter Pleonasmus wie ein «weisser Schimmel»? Ist der Begriff Leadership bereits dermassen zur Worthülse verkommen, dass man ihm ein Adjektiv beistellen muss, damit er seine ursprüngliche Bedeutung wieder erhält?

Eigentlich sollte man ja annehmen dürfen, Führungskräfte seien sich der Verantwortung bewusst, die sie für ihre Mitarbeitenden und die Gesellschaft tragen. Der Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt allerdings, dass es immer wieder Fälle gibt, in denen Unternehmen sich regelwidrig verhalten und damit Menschen oder der Umwelt Schaden zufügen – Deepwater Horizon oder Rana Plaza sind zwei Beispiele dafür, die sich ins kollektive Bewusstsein eingeprägt haben. Derartige Ereignisse beschädigen das Vertrauen in die Führung von grossen Organisationen massiv. Sie beflügeln gleichzeitig den Ruf nach einer Leadership, die Verantwortung für ihr Handeln übernimmt und die nicht vor den Fabriktoren endet.

Fünf Dimensionen der verantwortungsvollen Leadership

Copyright: knowledge.insead.edu

Was für CEOs von Weltkonzernen gilt, lässt sich wohl für Führungskräfte allgemein sagen: Leadership schliesst Verantwortung ein. Es lohnt sich allerdings, darüber etwas genauer nachzudenken und sich zu überlegen, was Responsible Leadership in unserem Führungsalltag bedeuten könnte. Und wer wäre dazu berufener als Henri-Claude de Bettignies, emeritierter Professor für Leadership und Verantwortung am INSEAD in Paris? Er hat bereits 2014 Responsible Leadership mit fünf Dimensionen umrissen und schlägt fünf Dimensionen vor, die verantwortungsvolle Führung auszeichnen:

  1. Awareness: Bewusstsein seiner/ihrer selbst und der Entwicklungen im Umfeld
  2. Vision: konkrete Vorstellung davon, wo (und wofür) man als Individuum und Organisation zukünftig stehen möchte
  3. Imagination: Fähigkeit, sich etwas Anderes vorstellen zu können als das, was heute offensichtlich ist
  4. Responsibility: Wahrnehmung der eigenen Möglichkeiten zur Veränderung
  5. Action: Unterstützung der Faktoren, die dazu führen, dass Veränderung geschehen kann

Beachtenswert ist, dass diese fünf Dimensionen auf der Ebene des Individuums, der Organisation und der Gesellschaft zu betrachten sind. Beispielsweise ist eine reife Selbstwahrnehmung (Self-Awareness) eine Voraussetzung für Leadership. Sich in sich selbst zu versenken, reicht jedoch nicht – eine Führungskraft muss ebenso die Entwicklungen und Ereignisse in der Organisation wahrnehmen. Und: Sie muss die Trends und Bedürfnisse in der Gesellschaft erkennen, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Ähnliches gilt für die anderen Dimensionen einer verantwortungsbewussten Führung.

Accountable Leadership

Dem würde ich mich anschliessen. Einen kleinen Schönheitsfehler hat das Konzept allerdings: dass Responsibility eine Dimension von verantwortungsbewusster Führung sein soll, versteht sich eigentlich von selbst. Ich für mich würde deshalb statt von «Responsibility» eher von «Accountability» sprechen. Als Führungskraft muss ich mir nämlich immer wieder selbst Rechenschaft darüber ablegen, ob mein Verhalten als Leader meinen Grundsätzen entspricht und ob ich damit zum Wohl der Organisation und der Gesellschaft beitrage. Gleichzeitig muss ich mich aber auch von meinem beruflichen Umfeld, also meinen Stakeholdern, messen lassen – letztlich sind sie es, die beurteilen, ob ich meine Verantwortung als Führungsperson wahrnehme.

Würde für Leadership

Das Modell der fünf Dimensionen und der drei Ebenen macht den Begriff der Verantwortung greifbarer. In diesem Sinn gibt das Adjektiv «responsible» der Leadership ihre Würde zurück. Es ist eine Aufforderung, sich der Verantwortung bewusst zu werden, die mit der Funktion als Führungsperson verbunden ist, und diese Aufgabe mit ganzer Kraft, voller Bescheidenheit und im Dienste von Mitarbeitenden und Gesellschaft wahrzunehmen. Meine Hoffnung ist – und ich sehe in meinem Umfeld viele Zeichen, die mich in dieser Hoffnung bestätigen –, dass es den Zusatz «responsible» irgendwann nicht mehr braucht, weil Leadership und Verantwortung sich nicht trennen lassen.

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